Die Acta Cusana nehmen eine singuläre Stellung unter den Editionsprojekten ein. Der Sonderfall der, dank der Prominenz wie der intensiven eigenen Schriftproduktion der Bezugsperson Cusanus, sehr breiten Überlieferung erlaubt eine detaillierte biographische Dokumentation, wie sie für kaum einen anderen Menschen des Mittelalters denkbar erscheint. Die Persönlichkeit des Philosophen und Kirchenpolitikers wird so in einer für das Spätmittelalter ansonsten beispiellosen Plastizität greifbar, welche vom Engagement des Kardinals in großen Fragen der abendländischen Christenheit (Kirchenreform, Türkengefahr, Hussiten etc.) bis hin zu seinen Ess- und Trinkgewohnheiten reicht. Das vorhandene Material erlaubt einen sehr dicht belegbaren Längsschnitt durch die brillante Aufsteigerkarriere des bürgerlichen Klerikers, der es im Verlauf seines Lebens zu einem der einflussreichsten Würdenträger in der Kirche gebracht hat. Darüber hinaus bieten die Acta eine umfassende Quellendokumentation der zahlreichen Problemfelder, die Nikolaus von Kues von Tag zu Tag zu bedenken hatte, und somit immer wieder detaillierte und exemplarische Querschnitte durch die spätmittelalterliche Alltagswirklichkeit, gebrochen durch unterschiedliche Wahrnehmungsmodi. In der Gesamtschau ergibt die Zusammenstellung vieler unterschiedlicher Detailaufnahmen ein fast ‚totales‘ Lebensbild einer Welt; zwar nicht repräsentativ für die gesamte Bandbreite spätmittelalterlicher Lebensformen, aber doch für die Welt eines gelehrten Juristen und Kirchenpolitikers, eines Bischofs, Seelsorgers und Philosophen.
Die Kriterien der Auswahl und Gruppierung der Stücke lassen dem Editor einen flexiblen Ermessensspielraum. Gerade bei unsicheren und unscharfen Datierungen bietet es sich an, inhaltlich Zusammengehöriges kompositorisch miteinander zu verknüpfen, und zwar nicht nur durch ein dichtes Netz von Vor- und Rückverweisen auf andere Stücke, sondern auch durch texträumliche Verdichtung. So werden beispielsweise im Faszikel II 1 die Stücke, welche den an der Kurie geführten Streit um die Maßnahmen des Nikolaus von Kues zu einer Reform der Mendikantenorden betreffen, im Zusammenhang gebracht. Sie bieten so eine substantielle Dokumentation der Argumentationslinien in diesem spätmittelalterlichen Dauerkonflikt (AC II 1, Nr. 2720–2728; Woelki 2012).
Ein weiteres Signum besteht in der Mischung von selbst- und fremdwahrnehmenden Texten. Die von Cusanus selbst verfassten Texte,– manche von Ihnen können Ego-Dokumente genannt werden – fügen sich mit zahlreichen, typologisch differenten Texten Dritter zusammen, die ihn in sehr unterschiedlichen Perspektiven, Funktionen und Kontexten ‚von außen‘ wahrnehmen. So entsteht ein vielschichtig irisierendes Bild einer Person und ihrer Umwelt. Insofern vermitteln die Acta Cusana auch die essenzielle Perspektivität von Geschichte.
An Quellen-Kompositionen wie den Acta Cusana wird deutlich, in welch hohem Maße der Editor auch als Konstruktor von Geschichte tätig wird, und das heißt: mit allerhöchster Verantwortung und Nachhaltigkeit für künftige Geschichtsbilder. Die Konfiguration der Acta, eines künstlichen Mosaiks aus diachron gruppierten Texten und Textauszügen, die es vorher so nicht gab, die also nichts bloß ‚abdruckt‘, sondern einen vielfältigen Mehrwert erbringt, wird künftig das Bild des Cusanus und bis zu einem gewissen Maße auch das Bild der Kirchengeschichte des 15. Jahrhunderts mitbestimmen.
Die Bedeutung der Acta Cusana geht mithin weit über die Cusanus-Forschung hinaus. Für viele Bereiche der Forschung zum Spätmittelalter stellen die Acta bereits jetzt ein zentrales Referenzwerk dar. So sind für die Geschichte der Reichstage der 1430er und 1440er Jahre neben den entsprechen Bänden der Deutschen Reichstagsakten auch die Acta Cusana heranzuziehen, die überdies viele Irrtümer richtigstellen und Lücken schließen. Die kommenden Lieferungen 2 und 3 des II. Bandes werden entsprechend für die Türkenreichstage der Jahre 1454/55 heranzuziehen sein. Die umfangreichen Lieferungen 3a und 3b zur Legationsreise des Nikolaus von Kues (1451/52) erlauben strukturelle Einblicke in die Vielfalt des kirchlichen Lebens im vorreformatorischen Reich und sind dabei auch ein Zeugnis für spätmittelalterliches Reformdenken und die Probleme von dessen praktischer Umsetzbarkeit. Die auch Jahre nach der Legationsreise andauernden Nachwirkungen dieser Reformimpulse gehören zu den zentralen Materien der künftigen Bände.
Das Ringen um die Reform wird auch weiterhin einen Schwerpunkt der Acta darstellen. In Band II steht das großangelegte Projekt des Kardinals im Mittelpunkt, seine eigene Diözese Brixen zu einem Muster vorbildlicher Frömmigkeitspraxis zu machen. Die hierbei entstehenden Konflikte mit regionalen Eliten, tradierten Gewohnheiten und gewachsenen Loyalitätsstrukturen erlauben detaillierte Einblicke in die Möglichkeiten und Grenzen der Kirchenreform. Berühmt ist der jahrelange Streit mit der Äbtissin des Klosters Sonnenburg, Verena von Stuben, der in den Tiroler Quellen ebenso intensiv dokumentiert ist wie die Konflikte mit dem Landesherrn, Herzog Sigismund von Österreich, mit den Brixener Klarissen, den Stamser Zisterziensern usw. Die zusammengestellten Dokumente gehen über die zum größten Teil aus bekannten Editionen schöpfende, unkritische abdruckende und kaum kommentierte Sammlung von Wilhelm Baum und Raimund Senoner weit hinaus.
Zu den Quellen
Die Quellengrundlage für Band I bildet vor allem eine umfangreiche Überlieferung des Basler Konzils (Konzilsprotokolle, Chronik des Johannes von Segovia, zahlreiche Sammelhandschriften der Konzilszeit) und der Reichstage der 1440er Jahre. Hinzu traten zahlreiche von Erich Meuthen entdeckte Stücke zum Trierer Bistumsstreit sowie die umfassend ausgewerteten vatikanischen Registerserien und italienische Archivbestände. Die Faszikel 3a und 3b rekonstruieren die große Legationsreise der Jahre 1451/1452 anhand einer äußerst weitgestreuten Überlieferung aus ebenso zahlreichen Archiven und Bibliotheken, vor allem Süddeutschlands und Österreichs.
Neben zahlreichen Handschriften, Urkunden und Akten aus verschiedenen Bibliotheken und Archiven Österreichs und Südtirols, die häufig seit den landeshistorischen Studien des 19. Jahrhunderts nicht mehr benutzt wurden, werden für Band II der Acta Cusana vor allem die zentralen Handschriftenbestände Innsbruck, Tiroler Landesarchiv, Cod. 2336 und ebd. Sigmundiana IX 62 erstmals umfassend ausgewertet. Die flächendeckend erhaltenen bischöflichen Rechnungsbücher (Brixen, Diözesanarchiv, HA 9994-9995 und 27323-27327) und Lehensregister (Bozen, Staatsarchiv, Bischöfliches Archiv, BL I und II) ermöglichen eine umfassende Rekonstruktion der materiellen Hofhaltung des Bischofs und seiner vielfältigen Loyalitätsverflechtungen mit regionalen Eliten (Lehnsurkunden etc.).
Einen weiteren Schwerpunkt bilden die vor allem mit rechtshistorischen Mitteln unternommenen Bemühungen des Nikolaus von Kues um die Wiederherstellung und Ausweitung der materiellen Machtbasis des Brixener Hochstifts, vor allem zu Lasten Herzog Sigismunds und regionaler Adliger. Die in seiner Zeit ungewöhnliche systematische Suche des Cusanus nach alten Urkunden und Privilegien befeuerte eine ganze Reihe von traktatartigen Abhandlungen über die historischen Besitzungen der Brixener Kirche. Dieser rechtshistorische Schwerpunkt wird sich in Band III noch intensivieren. Er behandelt die Zeit, in welcher der gewaltsam aus seinem Bistum vertriebene Bischof einen regelrechten Traktatkrieg gegen Herzog Sigismund und dessen bekannten Hausjuristen (und Cusanusfeind) Gregor Heimburg führte. Die zu diesem Zweck von Cusanus angelegte Aktendokumentation (Bernkastel-Kues, Stiftsarchiv, Cod. Cus. 221) wird dabei der Forschung erstmals in ihrer Breite bekannt gemacht werden.
Auch eine friedliche Seite der Reform findet sich in den Acta Cusana wieder. Der freundlich-respektvolle Briefwechsel mit den Tegernseer Mönchen zeugt von ehrlichem Bemühen um eine effektive Selbstvervollkommnung und ist eine wichtige Quelle für spätmittelalterliche Mystik. Besonders die von den Tegernseer Mönchen erbetenen ‚responsiones ad dubia‘ sind eindringliche Zeugnisse für die Vollzugsdimension spätmittelalterlicher Frömmigkeit. Hinzu kommen, besonders im III. Band, umfangreiche Nachweise für Reforminitiativen an der römischen Kurie und in Orvieto, an denen Nikolaus von Kues als päpstlicher legatus urbis bzw. als Stellvertreter Papst Pius‘ II. bei dessen Abwesenheit maßgeblichen Anteil hatte.
Einen Kernbereich der Acta Cusana bilden auch für die kommenden Lieferungen die Briefwechsel des Nikolaus von Kues mit berühmten Persönlichkeiten des 15. Jahrhunderts, allen voran Enea Silvio Piccolomini (ab 1458 Papst Pius II.). Dabei werden Piccolomini-Briefe nach den Handschriften neu ediert, auch die (bis Juli 1454) bei Rudolf Wolkan gedruckten. Der Briefwechsel mit dem Theologen und Basler Konzilsvater Johannes von Segovia (†1458) liefert wichtige Einblicke in die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Islam. Die Edition der Korrespondenz mit verschiedenen Herrschern und Fürsten (Kaiser Friedrich III., Herzog Sigismund und dessen Frau Eleonore, dem Dogen von Venedig, dem Herzog von Mailand und vielen anderen) leistet wichtige Beiträge für die politische Geschichte und die diplomatischen Techniken und Rituale dieser Zeit.